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RHEIN-LAHN. (28. März 2025) Morgensituation im Kindergarten: ein Kind wird von der Erzieherin angesprochen, reagiert aber überhaupt nicht. Klingt banal, löst aber in der pädagogischen Kraft sofort eine negative Stimmung aus. Mit Verhaltensweisen, die noch weit mehr die Nerven des Fachpersonals fordern, beschäftigt sich eine Schulung, die derzeit alle Leitungen der Kindertagesstätten in Trägerschaft des evangelischen Dekanats Nassauer Land (EvKiD) absolvieren. „Ressourcenorientierte Begegnung mit herausfordernd erlebtem Verhalten“ ist der etwas sperrige Titel, der in der Praxis aber das Miteinander zum Wohl aller Kinder stärken soll.
„An den Rahmenbedingungen für die Arbeit in den Kitas hat sich in der Vergangenheit einiges verändert, während in den Einrichtungen selbst dafür keine Ressourcen entwickelt wurden“
Besser wäre: „Bei ähnlichen Rahmenbedingungen haben sich die Anforderungen an die Kita-Arbeit geändert“ weiß Professor Dr. Klaus Fröhlich-Gildhoff von der evangelischen Hochschule in Freiburg, der die Schulung zusammen mit Professorin Dr. Rieke Hoffer leitet. Die Kinder sind länger und früher in den Kitas, die Berufstätigkeit der Eltern verringert die heimische Erziehungszeit und hat deren Belastbarkeit ebenfalls erheblich gesenkt. Das steigert die Herausforderungen des pädagogischen Personals. Nicht umsonst rangieren nach Angaben der Krankenkassen Berufe in der Kindererziehung durch die psychische Belastung weit oben bei Krankheitsausfällen.
„Es geht darum, den Herausforderungen systematisch zu begegnen, um wieder handlungsfähig zu werden“, so der Psychologe und Autor vieler Bücher, die sich mit frühkindlicher Erziehung und Bildung befassen. Das Verhalten verstehen, Schritte zum Gegensteuern planen und umsetzen. Dazu soll die Schulung beitragen.„Es gibt Kinder, die ihre Not dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie anderen in den Arm beißen“, nennt Fröhlich-Gildhoff ein Beispiel. „Erst wenn ich verstanden habe, warum es das macht, kann ich einen Zugang finden, das abzustellen, wenn auch nicht von heute auf morgen.“ 20 Prozent der Kita-Kinder zeigten Auffälligkeiten, fünf Prozent ein aggressives Verhalten. Aber es geht auch um die Stillen, die sich unter den Tisch verkriechen, wenn andere miteinander spielen oder nach draußen ins Freie stürmen. Auch sie sollen durch die Schulung in den Blick genommen werden. Ein Baustein der Schulung: sich der eignen Normen und Werte bewusst werden, um die Probleme sachlich statt emotional genervt zu erkennen.
„Es geht unheimlich viel Energie verloren, wenn wir das einfach so laufen lassen“, sagt Katja Wüst, Fachberaterin für Kindertagesstätten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), die das Modell als zukunftsweisend erachtet, um alltägliche Stresssituationen abzubauen und den Ursachen für das herausfordernde Verhalten mancher Kinder auf den Grund zu kommen. Es gehe darum, auf Grundlage des Modells systematisch herauszufinden, wo Grundbedürfnisse eines Kindes nicht gestillt werden. Damit das ganze keine Eintagsfliege bleibt, hält es Wüst für sinnvoll, an einem Schließtag für alle Kitas des Dekanats Erfahrungen mit dem Modell und angewandt Hilfen auszutauschen. „Nicht nur die Leitung, sondern das ganze Team soll das Konzept verinnerlichen, damit es leichter fällt, den Ursachen für belastendes Verhalten auf die Spur zu kommen.“
„Wir wollen unsere Mitarbeitenden in die Lage versetzen, gewappnet zu sein anstatt den Kopf in den Sand zu stecken“ … „in Resignation zu verfallen“, sagt EvKiD-Geschäftsführerin Gabriele Scholz und ist dem Dekanat als Träger dankbar, dass es die Schulung ermöglicht. „Es erhöht ja die Qualität in unseren Einrichtungen zum Wohl der Kinder“, so Scholz. Neu sei das Thema nicht, denn bei Verhaltensauffälligkeiten müsse immer entschieden werden, ob es meldepflichtig ist oder nicht. Für Scholz entscheidend, dass die Methode dauerhaft im Kita-Alltag implementiert ist.Zurück zur Praxis: „Früher gab es auch schon herausfordernde Kinder, aber die Zahl hat sich vervielfacht und auch die Intensität der Auffälligkeiten“, erinnert sich Beate Böhme, Leiterin der Kita Pusteblume in Hahnstätten, an ihre 1984 beendete Ausbildung und die Entwicklung seither. 135 Kinder von einem Jahr bis zur Einschulung besuchen heute die evangelische Einrichtung. Von dem Modell, das sie schon im vergangenen Jahr während einer Schulung kennen lernte, erhoffen sich Böhme und ihr 27 pädagogische Kräfte starkes Team, den Ursachen für das schwierige Verhalten im Kita-Alltag auf den Grund zu kommen.
„Da hilft auch die Beobachtungstabelle, die wir bekommen haben“, sagt ihre Stellvertreterin Laura Degenhardt. Damit lasse sich ein sachliches Bild von der Situation zeichnen. Die reine Feststellung „Das Kind schreit immer“ diene weder dem Kind noch dem Team als Ansatz für Abhilfe. „Dank des Modells lässt sich das Verhalten differenzierter betrachten und es lassen sich Muster erkennen“, so Böhme. Das Bewusstsein fürs Hinterfragen aufrecht zu erhalten, dem dient ein Konzeptionstag in Hahnstätten. „Und auch der regelmäßig von Katja Wüst angebotene Austausch in einem Arbeitskreis ist hilfreich fürs Reflektieren“, so Degenhardt. Auch wenn sich der Stresslevel von Eltern in der Vergangenheit deutlich erhöht habe (Böhme: „Sie sind beide meist berufstätig, erfahren Druck am Arbeitsplatz und sorgen sich mehr ums Wohl der Kinder“) – mit denen gebe es nach wie vor einen guten kooperativen Dialog.
Ein anderes konkretes Beispiel, das an Bedeutung stark zugelegt habe und das sie in Leitungsgesprächen immer wieder geschildert bekommt, nennt Gabriele Scholz:
„Kinder verarbeiten die Trennung von Eltern ganz unterschiedlich. Dann geht es darum, das Gefühl von Verlässlichkeit und Vertrauen wieder aufzubauen“,
so die Geschäftsführerin. Dem dienen Absprachen im Team, um sich ganz besonders um dieses Kind zu kümmern. Nach ein, zwei Monaten ließe sich ablesen, welche Verhaltensänderung es bei dem Kind gibt. Und nicht nur in den Teams selbst wünscht sich Scholz mehr Austausch, sondern auch zwischen den 20 Einrichtungen des Dekanats. Scholz: „Wichtig ist, dass wir in unseren Kitas nicht frustriert im eigenen Saft schmoren, sondern uns durch die neue Methode gegenseitig motivieren, wie das Miteinander besser gelingen kann.“ Der letzten Satz könnte vielleicht lauten: „Wichtig ist, dass durch diese Methode nicht nur unsere Einzel-Teams gestärkt werden, sondern sich die Teams auch gegenseitig motivieren und darin unterstützen, wie das Miteinander zum Wohl der Kinder noch besser gelingen kann."
Fotos: In Hahnstätten gab es jetzt wieder eine Schulung für Kindergarten-Leitungen in Trägerschaft des evangelischen Dekanats Nassauer Land. Es soll helfen, den Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern systematisch zu verbessern. Fotos: Dekanat Nassauer Land/Matern